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Verloren im Neuland - Wie Deutschland im Netz versagt

Wohl kaum eine Liebe pflegt Deutschland so sehr wie die zur Industrialisierung. Sie hat den deutschen Ländern damals zum Sieg über den Erbfeind Frankreich und somit zur Einheit verholfen, sie hat „Made in Germany“ zum Qualitätssiegel gemacht und Namen wie Bosch, Siemens, Krupp, Mannesmann und Linde als Inbegriffe deutscher Wertarbeit in die Welt hinausgetragen. Auf dieser Grundlage schafften es später Automobilfirmen wie Daimler, BMW und Volkswagen, international zu Platzhirschen der Branche zu werden. Nun ist die Industrialisierung schon eine etwas alte Dame geworden, aber trotz steigender Runzligkeit weigert sich Deutschland beharrlich, mehr als nur einen Blick auf die attraktive und ehrlich gesagt auch ganz schön nuttige Digitalisierung zu werfen. Wenn, dann spielt man ihr lediglich kurz an den üppigen Brüsten, nur um dann wieder zurück zur alten Industrie zu dackeln, ihr eine Brustvergrößerung anzuraten und dann die vorher angestaute Geilheit auf bekanntem Gelände wegzurammeln.

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Konkret gesagt: Deutschland bringt kaum ein weltweit erfolgreiches Internet-Unternehmen zustande, aber Politik und Gesellschaft finden das nicht schade genug, um sich wirklich einen Kopf darüber zu machen. Angela Merkel hielt das Internet noch für Neuland, als bereits einige der wertvollsten Unternehmen der Welt hauptsächlich im Internet ihr Geld verdienten. Wen wundert es: In der öffentlichen Verwaltung verstand man (teilweise bis heute) unter Onlineservice noch, dass man sich die Formulare als PDF herunterladen kann, die man dann doch ausdrucken und per Post ans Amt schicken muss. Es überrascht nicht, dass die Bedürfnisse, Ideen und Möglichkeiten der New Economy quasi außerirdisch anmuten.

Erst wenn die heimischen Unternehmen mal wieder wegen akuter Bräsigkeit an Börsenwert verlieren, schielt man ein bisschen neidisch in die USA auf Google, Amazon und Facebook und fragt hilflos, warum wir das nicht auch können, obwohl sich die Kopierwerkstatt der Brüder Samwer doch so eine Mühe gibt, zu jeder in den USA erfolgreichen Idee ein etwas peinliches Plagiat zusammenzuzimmern, welches immerhin bis zum Börsengang oder dem Verkauf an andere Unternehmen überlebt.

Tatsache ist: Deutschland gibt sich jede Menge Mühe, kleinen und jungen Unternehmen Knüppel zwischen die Beine zu schmeißen. Ganz besonders groß ist der Haufen Bullshit, durch den man sich wühlen muss, wenn man ein „Medienanbieter“ ist, also tatsächlich redaktionelle Beiträge im Netz veröffentlichen möchte. Denn dann hängt einem dieses Monstrum im Nacken, das die Deutschen als Jugendschutz bezeichnen.

In glühender Hingabe an das Prinzip „Wir bilden uns Probleme ein, die kein anderes Land der Welt hat“ dachte man sich bei uns nämlich aus, dass es nicht nur jugendgefährdendes Material gäbe, sondern auch jugendbeeinträchtigendes. Keiner weiß so recht, woran sich das festmachen lassen soll – immerhin scheint selbst das Anerkennen von Homo- oder Bisexualität vor Erreichen der Volljährigkeit in den Augen mancher staatlich bestellter Jugendschützer jugendbeeinträchtigend zu sein. Aber trotzdem: Weil sich aus irgendeinem Grund im Land der Dichter und Denker fremde Unternehmen mehr um den Medienkonsum irgendwelcher Kinder und Jugendlichen kümmern sollen als die eigenen Eltern, soll solches Material am besten gar nicht veröffentlicht werden. Und auch wenn jedem mit einem IQ über Zimmertemperatur klar werden sollte, dass die Heranwachsenden ihre Schmuddelbedürfnisse dann eben auf ausländischen Seiten befriedigen, tut man hier in Deutschland noch so, als wäre der heimische Jugendschutz etwas, auf das andere Länder bestimmt neidisch wären. Daher ist man gezwungen, allerlei unsinnige Vorgaben einzuhalten, die von Altersverifikation über Zeitbeschränkungen bis hin zur Bestellung von Jugendschutzbeauftragten gehen, weil natürlich jede kleine Internetseite seine eigene kleine Zensurbehörde im Haus haben sollte. Langsam fragt man sich, ob ausländische Pornoanbieter ordentlich Lobby-Arbeit in den Parlamenten gemacht haben, um so die Unterdrückung der deutschen Konkurrenz sicherzustellen.

Aber auch sonst gibt sich Deutschland redliche Mühe, dieses Neuland mit den absurdesten Regelungen zu verunsichern. Wer einen Live-Stream veranstalten will, wäre rein rechtlich erst mal dazu verpflichtet, sich eine Sendelizenz von einer Landesmedienanstalt einzuholen, falls man mehr als 500 Zuschauer haben könnte. Das wird derzeit zwar nicht ernsthaft durchgesetzt, aber um da Rechtssicherheit zu kriegen, müsste der Rundfunkstaatsvertrag angepasst werden, was wiederum die Zusammenarbeit aller Bundesländer erfordert und nach der Devise „Viele Köche verderben den Brei“ vermutlich amtlich in die Hose gehen wird.
Nachtrag von Ende März 2017: Inzwischen geht man doch aggressiv gegen solche Streaming-Angebote vor, wie der Twitch-Kanal PietSmietTV erfahren musste.

Auch der Datenschutz treibt seltsame Blüten, weswegen etwa Internetseiten wie diese hier (dank einer EU-Richtlinie) Cookie-Warnungen einblenden müssen, die von den Besuchern sowieso nur ignoriert oder ungelesen weggeklickt werden. Ernsthafter wird es, wenn von Datenschutzbeauftragten untersagt wird, die IP-Adressen zu speichern (auch wenn man diese gebrauchen kann, um Störenfriede auszusperren), während gleichzeitig woanders gefordert wird, extra derartige Daten vorzuhalten, damit böse Kommentarschreiber, die andere Menschen beleidigen oder bedrohen, identifiziert und vor den Kadi gezerrt werden können. Der Richterbund forderte zuletzt sogar, dass Plattformbetreiber bei strafrechtlich relevanten anonymen Kommentaren Namen und Adressen der Schreiber liefern müssten, was wieder mal zeigt, dass man trotz langem Studium offenbar immer noch zu blöd sein kann, um das Wort „anonym“ zu begreifen. (Die Datenschutzgesetze verbieten wiederum den Plattformbetreibern, Daten von den Benutzern zu verlangen, die nicht unbedingt nötig sind.)

Das ist aber nur der Anfang, denn rechtlich ist der Betrieb einer Internetseite in Deutschland so heikel, dass man es sich dreimal überlegen sollte. Gerade erst vor wenigen Monaten hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man gefälligst bei allen Seiten, auf die man verlinkt, eine rechtsverbindliche Auskunft verlangen solle, dass sie die Inhalte, die sie verwenden, auch verwenden dürfen. Das Gericht sieht sich selbst außerstande, das bei der eigenen Website zu bestätigen, was eigentlich schon alles sagt. Aber Juristen dienen nun mal anscheinend in erster Linie ihrem eigenen Berufsstand, und so darf man darauf vertrauen, dass das Abmahn-Unwesen, welches in Deutschland zu einer Blüte gelangt ist, die in anderen Ländern unvorstellbar wäre, immer weiter wächst.

Für Seiten mit Inhalten von Nutzern wird gerade im Zuge der Fake-News-Diskussionen die Luft eng: In Zukunft soll man dafür verantwortlich sein, was die Leute auf der Seite posten, und am besten noch alles korrigieren. Man stelle sich vor, die Post wäre verpflichtet, jeden Brief und jede Postkarte auf Korrektheit der Inhalte zu überprüfen, oder die Kabelnetzbetreiber wären dafür verantwortlich, dass ein Fernsehsender in seinen Nachrichten eine Falschmeldung veröffentlicht. Solche Regeln dann aber im Neuland aufzustellen, wo sie nur von Unternehmen ordentlich befolgt werden könnten, die schon im Ausland groß und reich geworden sind und sich das nötige Personal leisten können, ist im Hinblick auf die Entwicklung der heimischen Internetbranche höchst beknackt.

Wenn jemand digitale Güter im Netz verkaufen will, ist er innerhalb der EU schon ab dem ersten Euro dazu verpflichtet, die Mehrwertsteuer für das Land des Käufers einzuziehen (und dann entsprechend zu bezahlen), er muss also die verschiedenen Mehrwertsteuersätze von 28 Ländern verfolgen. Will er hingegen echte Gegenstände verschicken, ist er in Deutschland dazu gezwungen, einen eigenen Entsorgungsvertrag für die ganzen Verpackungen zu schließen und zu bezahlen, obwohl er selbst die Verpackungen ja gar nicht wegschmeißt und keine Ahnung hat, ob die Pappkartons auch nur in der Nähe des Entsorgers landen, an den man vertraglich gebunden ist. Die Mindestmenge, für die man dann üblicherweise im Jahr bezahlen muss, geht zum Beispiel bei zwei Tonnen Pappe los. Man hat nur 10 Kilo oder 200 Kilo Verpackung im Jahr verschickt, weil man gerade erst angefangen hat oder es eine Flaute gibt? Scheißegal, man bezahlt trotzdem so viel wie für zwei Tonnen Pappe. Und wenn nicht? Der geneigte Leser lasse seinen Blick nach oben zum Wort „Abmahn-Unwesen“ schweifen.

Das alles könnte man vielleicht noch mit Zähneknirschen akzeptieren, wenn wenigstens die Infrastruktur in Deutschland gut wäre. Aber nein: Deutschland ist nicht mal in der Top 20 der Länder mit dem schnellsten Internetzugang. Und damit nicht genug: Nur 5,5 Prozent der Deutschen haben einen richtig schnellen Internetzugang; dabei werden wir selbst von Rumänien überholt.

Auch mobil sieht’s mau aus: Da die Funkfrequenzen für die Datenübertragung vom Bund für Milliardensummen versteigert werden, haben die drei Netzbetreiber Telekom, Telefónica (O2) und Vodafone eine ideale Begründung für absurd teure und dennoch sehr beschränkte Datentarife. In Dänemark kann man für umgerechnet unter 16 Euro unbegrenzt mit dem Handy surfen, in Deutschland sind solche Zustände der Stoff, aus dem feuchte Träume gemacht werden. Wenn ich das schon lese, muss ich fast vor Verzückung die Unterwäsche wechseln.

Zusätzliche Begründung von Bundesnetzagentur und Anbietern für die Apothekerpreise: In Deutschland wäre die Nutzung ja sowieso nicht so groß. Kein Wunder, die meisten Leute können ja höchstens nur eine Niere entbehren, um ihre horrende Mobilfunkrechnung zu bezahlen. In Zeiten, in denen Smartphone-Apps tatsächlich als Grundlage für die Geschäftstätigkeiten von Milliardenunternehmen dienen, sollte so eine nutzungsfeindliche Preisgestaltung als mutwillige Sabotage der deutschen Wirtschaft angesehen werden. Ich weiß zwar, dass man heutzutage keine Leute mehr deswegen erschießen darf, aber zumindest das Bewerfen mit alter Leberwurst sollte immer noch erlaubt sein. Erinnert mich daran, das mal nachzuschlagen. Überraschen kann die Gier der Mobilfunkanbieter allerdings nicht, weil sich das schon bei den SMS andeutete: Nachdem die EU die Roaming-Gebühren deckelte, wäre es für viele Deutsche billiger gewesen, über die Grenze zu fahren und von dort eine Kurzmitteilung in die Heimat zu schicken. Dummerweise werden die Roaming-Gebühren 2017 vollständig abgeschafft und machen SMS im Ausland wieder so teuer wie daheim.

Man könnte den Mobilfunkwucher ja noch abmildern, wenn es – wie in anderen Ländern – zumindest in den Ballungsräumen öffentliche WLAN-Netze gäbe, die woanders zumeist auch gratis sind. Aber nein: Weil man in Deutschland ja nichts machen darf, ohne dass die theoretische Möglichkeit besteht, jemanden vor Gericht zerren zu können, ist das bequeme Betreiben solcher Zugriffspunkte rechtlich gerade für Privatleute und Unternehmen viel zu heikel, als dass sich das bislang in großem Stil durchsetzen konnte.

Berlin hat 2008 beschlossen, ein stadteigenes freies WLAN-Netz aufzubauen. Mitte 2016 waren dann endlich 100 Sendeantennen in der Stadt verteilt. Der weitere Ausbau lief offenbar nicht so doll: Bis Ende 2016 sollten es 650 sein, aber nicht mal auf der offiziellen Website des Projekts haben sich die Macher die Mühe gemacht, sie nach dem Start noch mal mit dem Arsch anzugucken. Eine Unterseite auf Berlin.de listet immerhin 157 Hotspots auf. Mein Optimismus, dass sie die anvisierten 2000 Hotspots bis Ende 2017 schaffen, hält sich dann doch arg in Grenzen.

Um die letzten 1500 Wörter zusammenzufassen: Die digitale Infrastruktur Deutschlands ist ebenso wie die gesetzlichen Regelungen eine mittlere Katastrophe für ein Land, welches eine Wirtschaftsmacht sein will. Insofern ist es kein Wunder, dass hier aus einem hoffnungsvoll gegründeten Start-Up extrem selten ein international bedeutendes Unternehmen entsteht.

Aber gibt es ein Licht am Horizont? Wird der Ausbau der Datenautobahnen Deutschland bald beflügeln? CDU und CSU haben im letzten Jahr auf sogenannten Deutschlandkongressen versucht, die Wichtigkeit der Digitalisierung zu betonen und dafür einzutreten, dass das Land gefälligst führend in der Welt wird, was diese Sache angeht. Also wirklich ein Zeichen für den Fortschritt? Nicht ganz: Vorangetrieben werden soll die Digitalisierung Deutschlands ausgerechnet von den deutschen Automobilherstellern, deren IT-Kompetenz bislang im Wesentlichen eingesetzt wurde, um bei Abgastests zu bescheißen.

Ich fürchte, wenn Deutschland wirklich bereit ist, das Neuland zu erobern, hat sich Rumänien schon die letzte Parzelle gesichert. Ob sie deutsche Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen würden? :angsthasi:

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