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Gesinnungsethik und Verantwortungsethik

In meinem Blogeintrag zum europäischen Plastikmüll im Meer hatte ich den Konflikt zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik erwähnt und dabei in Aussicht gestellt, darüber auch mehr zu schreiben, wenn das Interesse da wäre. Offensichtlich gibt es Interesse.

Die Begrifflichkeiten und der Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik wurden im Wesentlichen vom deutschen Soziologen Max Weber geprägt und untersucht. Gesinnungsethik bewertet Handlungen rein nach der Absicht und den Werten und Prinzipien, die damit zum Ausdruck gebracht werden sollen. Die Verantwortungsethik konzentriert sich dagegen auf die Ergebnisse und ob man die Auswirkungen verantworten kann, auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen.

Demonstrationen vor der US-Botschaft gegen die Wahl von Donald Trump waren ein typischer Ausdruck von Gesinnungsethik – man hat seine Haltung demonstriert, aber Konsequenzen hatte der ganze Aufwand nicht. Zu Fuß nach Syrien zu laufen, um gegen den Bürgerkrieg zu protestieren, ist pure Gesinnungsethik, genauso wie die meisten Besuche von Politikern in Katastrophengebieten. Das Atomabkommen mit dem Iran hingegen war ein Ausdruck von Verantwortungsethik, wie übrigens die meisten Abkommen, die diplomatisch besonders heikel sind.

Auch Rodrigo Dutertes brutaler, fernab von rechtsstaatlichen Prinzipien ablaufender Kampf gegen die Drogenkriminalität auf den Philippinen ist pure Verantwortungsethik. Und Brexit und die meisten Unabhängigkeitsbewegungen in Europa sind wiederum eher Gesinnungsethik (Freiheit! Selbstbestimmung!), werden von den Befürwortern aber als Verantwortungsethik verkauft, wenn sie den Menschen erzählen, wie gut es ihnen danach gehen würde, weil der Status quo sie derzeit in ihren Möglichkeiten bremsen würde.

Beide Sichtweisen, Gesinnungs- und Verantwortungsethik, haben ihre Vor- und Nachteile und sollten daher idealerweise ungefähr im Gleichgewicht sein. Das wird allerdings immer schwieriger, je polarisierter der öffentliche Diskurs ist und somit auch die Bereitschaft wächst, Andersdenkende zu dämonisieren oder anderweitig herabzuwürdigen.

Den Kontrast zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik konnte man in den letzten Monaten besonders gut in der Diskussion um die privaten Rettungsorganisationen im Mittelmeer beobachten. Für Gesinnungsethiker ist es gar keine Frage, dass man Leute, die man vor dem Ertrinken gerettet hat, auch gleich dahin bringt, wo sie hinwollten (nämlich nach Europa), anstatt sie zurück in Länder zu bringen, in denen sie versklavt, misshandelt, ausgebeutet oder umgebracht werden könnten. Das wäre eine Frage der Menschlichkeit.

Verantwortungsethiker wiederum halten das für fatal, weil die Aufnahmeländer heftige Schwierigkeiten haben, diese Leute aufzunehmen, unterzubringen, zu verpflegen, Perspektiven zu bieten und zu integrieren. Ebenso machen sie sich Gedanken, inwieweit diese erfolgreichen Migrationsbewegungen wiederum andere in ärmeren Ländern ermutigen könnten, sich auf diese gefährliche Reise zu machen, wodurch diese Menschen am Ende schlechter dastehen als vor ihrer Reise. Das sind beides erst mal legitime Sichtweisen, aber die Diskussion dazu ist sehr scharf geführt geworden. (Ich lehne übrigens den Vorwurf vieler Aktivisten in den sozialen Medien ab, die Kritiker der privaten Rettungsschiffe würden gerne die Leute ersaufen lassen. Man sollte die Rettung aus Seenot nicht mit dem Verbringen nach Europa zu einem untrennbaren Ganzen vereinigen, um mit ersterem letzteres besser gegen Kritik verteidigen zu können.)

Diese Schärfe ist nicht ganz selbstverständlich, weil natürlich niemand ein reiner Gesinnungs- oder Verantwortungsethiker ist. Selbst als Katzenliebhaber wird man es sich verkneifen, 20 Katzen aus dem Tierheim zu holen, weil man genau weiß, dass das die eigenen Möglichkeiten übersteigt und die Tiere am Ende dann auch nicht glücklich sein werden, auch wenn der Gedanke, möglichst vielen Miezen ein schönes Zuhause zu geben, sehr edel ist. Da triumphiert also die Verantwortungsethik, selbst bei den Gesinnungsethikern, die lautstark im Internet dafür eintreten, alle Flüchtlinge nach Europa zu holen, die hierher wollen.

Der umgekehrte Weg vom Verantwortungsethiker zum Gesinnungsethiker ist ebenfalls möglich, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Man kann problemlos der Meinung sein, dass es wirtschaftlicher Irrsinn ist, einem Krebspatienten jede Woche Medikamente im Gegenwert eines brandneuen VW Polo in den Körper zu injizieren, nur um sein Leben für 3 Monate zu verlängern. Ebenso kann man der Meinung sein, dass auch das Geld für die neue Hüftprothese eines 85-Jährigen sinnvoller für andere Gesundheitszwecke (wie etwa Impfungen) verwendet werden kann. Viele werden aber dann blitzschnell zum Gesinnungsethiker, wenn der Krebspatient die eigene Mutter oder der 85-Jährige der eigene Opa ist, weil man dann der Meinung ist, dass kein Preis zu hoch dafür sein kann, Menschen ein möglichst langes und mobiles Leben zu bescheren.

Auch im Gesundheitswesen kann es wiederum umgekehrt sein. Man kann insgesamt das Recht auf freie Selbstbestimmung verteidigen, aber dennoch der Meinung sein, dass es zum Beispiel gewisse Impfpflichten geben sollte, weil die Ergebnisse die Verletzung des Rechts auf freie Selbstbestimmung rechtfertigen.

Ein großes Problem ist, dass sich Gesinnungsethiker kaum in Verantwortungsethiker hineinversetzen können, und Verantwortungsethiker begreifen meistens nicht, wie Gesinnungsethiker ihre Prioritäten so setzen können, wie sie sie setzen. Das zeigt sich übrigens auch in Gesetzesvorhaben. Habt ihr euch gewundert, warum Jan Philipp Albrecht von den Grünen nicht zu verstehen schien, wieso es so viele Einwände gegen die von ihm vorangetriebene DSGVO gab, die er dann auch nur halbherzig abkanzelte? Oder warum Axel Voss von der CDU (nebst anderen) der Meinung war, die Einwände gegen den von ihm maßgeblich mitgestalteten Entwurf zur EU-Copyright-Richtlinie mit Uploadfiltern und Leistungsschutzrecht wären absurd, obwohl sie genau auf den Wortlaut abzielten, über den abgestimmt werden sollte? Die Politiker waren Gesinnungsethiker: Die Gesetze (bzw. Gesetzentwürfe) konnten in ihren Augen unmöglich diese befürchtete Wirkung (Overblocking und Zensur) haben, denn das war ja gar nicht die Absicht! Dass die Konsequenzen sich oft um Absichten nicht kümmern, ist ihnen in der Situation nicht bewusst gewesen, und der Versuch, ihnen das begreiflich zu machen, führte zu Abwehrreaktionen, weil man ungern seine eigenen Überzeugungen infrage stellen möchte.

Und auf der anderen Seite haben wir voreilige Abschiebungen von Leuten, deren Asylverfahren noch nicht endgültig abgeschlossen sind und bei denen dann Gerichte bestimmen, dass die Leute wieder zurückgeholt werden müssen – selbst wenn dann am Ende herauskommt, dass kein Asyl bewilligt wird und der Mensch wieder abgeschoben werden muss. Gesinnungsethiker verweisen auf die Prinzipien des Rechtsstaats, die Unabhängigkeit der Gerichte und dass es unabdingbar ist, dass die Entscheidungen von Richtern nicht unterlaufen werden. Und Verantwortungsethiker verstehen nicht, warum man scheißviel Geld ausgibt, um zum Beispiel Straftäter oder Terrorsympathisanten wieder nach Deutschland zu holen, zumal dann auch die Wahrscheinlichkeit sinkt, sie später wieder abschieben zu können, wenn es doch viel praktikabler wäre, die dann einfach woanders zu lassen und das Verfahren dann eben ohne persönliche Anwesenheit des Asylbewerbers abzuschließen.

Bei solchen Konflikten gibt es oft keine Antwort, die beide Seiten hundertprozentig befriedigen kann. Umso wichtiger ist es, einen Ausgleich zu finden, anstatt sich zum Sklaven einer einzigen Ansicht zu machen. In der Hinsicht fand ich das Ende der ersten Staffel von „Star Trek: Discovery“ interessant: Die Crew der Discovery vertritt schließlich entgegen den Befehlen ihrer Vorgesetzten die Ideale der Föderation und der Sternenflotte, um einen Genozid an den Klingonen zu verhindern, der allerdings auch einen Krieg beenden würde, der die Föderation an den Rand des Untergangs gebracht hat. Schließlich wird eine andere Lösung gefunden, die den Idealen der Sternenflotte eher entspricht. Dieser Kniff am Ende ist allerdings auch nur deswegen möglich, weil die Sternenflotte vorher bereit war, rein verantwortungsethisch zu handeln und dabei auch viele unschuldige Klingonen zu opfern. Ich fand es schade, dass dieser Aspekt nicht konkret angesprochen wurde. Vielmehr wurde so getan, als hätte die Crew der Discovery die Sternenflotte von einem komplett falschen Weg abgebracht, obwohl gerade die Verantwortungsethik überhaupt erst möglich machte, dass am Ende die Gesinnungsethik triumphieren und trotzdem den Krieg beenden konnte.

Mit diesem Hinweis auf aktuelle Science-Fiction wollte ich den Text eigentlich beenden, aber dann ist mir ein ganz realpolitisches Beispiel untergekommen, an dem man wunderbar sieht, wie man mit diesen beiden Sichtweisen auch strategisch agieren kann.

Nachdem der Weg von Libyen nach Italien für die Schlepper immer schwieriger zu überwinden ist, hat sich Spanien in kürzester Zeit zum Haupt-Ankunftsland für Migranten aus Afrika entwickelt. Und genau jetzt ruft Spanien Frankreich und Deutschland zu einer Koalition für ein Europa der offenen (Binnen-)Grenzen auf. Ich finde das herrlich: Spanien appelliert an die Gesinnungsethik Frankreichs und Deutschlands, handelt aber selbst dabei vollkommen verantwortungsethisch.

Die spanische Regierung weiß, dass die meisten Migranten gar nicht in Spanien bleiben wollen, deswegen werden viele gar nicht erst als Asylbewerber registriert. Damit die Migranten aber tatsächlich nicht in Spanien bleiben und den Spaniern auf der Tasche liegen, müssen die Grenzen zu den europäischen Nachbarn offen sein, ansonsten wird man die Last ja nicht los. (Das merkt Spanien gerade schmerzhaft, weil Frankreich die Migranten an der Grenze zurückweist.) Nun kann man natürlich nicht offen sagen: „Hey, macht mal bitte eure Grenzen auf, damit all die Neuankömmlinge zu euch abfließen können und uns nicht so viele Scherereien machen“, aber man kann an die europäische Idee appellieren und das als Kampf gegen Nationalismus und für „Migration in geordneten Bahnen“ verkaufen. Die Hauptsache ist im Endeffekt aber trotzdem, dass die geordneten Bahnen weg von Spanien verlaufen.

Ich bin selbst eher Verantwortungsethiker, aber ich sehe trotzdem auch den Wert der Gesinnungsethik. Ich habe allerdings das Gefühl, dass vielen kaum bewusst ist, dass es diese beiden Spielarten gibt, weswegen so viele Leute auch schnell dabei sind, anderen Herzlosigkeit oder finstere Absichten zu unterstellen, anstatt in Betracht zu ziehen, dass auch die Person, die man vielleicht nicht auf Anhieb versteht, gute Gründe und Absichten haben kann. Dass nicht wenige Leser kürzlich sagten, dass sie gerne mehr darüber lesen wollten, als ich das Thema kurz anschnitt, bestärkt mich darin, dass das mal deutlich gemacht werden sollte und somit vielleicht dazu motiviert, andere Sichtweisen besser zu verstehen.

Alternativ kann man nach dem Lesen natürlich auch mit den Schultern zucken und sich wieder Katzenbilder und Amateurpornos im Internet angucken. Hat im Endeffekt sicherlich denselben Effekt auf die Diskussionskultur im Netz. :popel:

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